PARENTAL RELAXATION- PARELAX VON DR. JUTTA WEBER
entspannt mit Kindern leben
TEIL EINS
I have a dream
Wem als Kind Mutter oder Vater fehlt, für den ist der andere Elternteil umso wichtiger. Mein Vater war nicht da, war nichts als ein Traumbild, eine Fata Morgana mit Rastalocken, und meine blonde, leibhaftige Mutter war mein Ein und Alles.
Schön, stolz, lebenshungrig und voller Freiheitsdrang, schienen mein Glück oder Unglück allein von ihr abzuhängen. Sie konnte über Kleinigkeiten lachen, bis ihr die Tränen herunterliefen. Sie konnte sämtliche Elvis-Lieder pfeifen und gleichzeitig dazu tanzen, und sie konnte wunderbar Geschichten erzählen, wobei ihre Augenbrauen zuckten und ihre Stimme an- und abschwoll. Es waren immer dieselben zwei Dutzend Geschichten, die sie mir in meiner Kindheit erzählte, mit denen sie mir ihr Leben erklärte. Diese Geschichten waren für mich wie ein Mantra, sie beruhigten mich, und ich wollte sie immer wieder hören.
Es gab drei Sorten: Schaurige Geschichten, schöne Geschichten und Geschichten rund um ihre Schwangerschaft und meine Geburt, von denen ich nie genau wusste, ob sie nun schaurig oder schön waren oder beides zugleich.
Es war ein Spätsommertag im Jahr 1963. In Washington feilte Martin Luther King gerade an seiner berühmten «I have a dream»-Rede, die Russen tüftelten in Moskau an einer neuen Weltraumsonde herum, und Konrad Adenauer machte es sich im Bonner Kanzleramt mit einem Feigenschnaps gemütlich, da stapfte meine Mutter missmutig durch die Straßen von Düsseldorf.
«Sie sind schwanger, Fräulein Nielsen!»
Die Worte des lächelnden Frauenarztes, aus dessen Praxis sie vor einer Stunde gestürmt war, hallten unheilvoll in ihrem Kopf nach.
Schwanger, verdammt. Mit einundzwanzig. Wo das Leben gerade begann, Spaß zu machen. Ihren schönen Job im Plattenladen, Männer, Tanz und Rock ’n’ Roll, mehr wollte sie nicht, vielleicht ab und zu noch ein Gläschen Martini … aber sicher kein quengelndes Kind am Rocksaum, für das sie Tag und Nacht verantwortlich sein sollte.
Zwei Frauen in mausgrauen Mänteln kamen ihr auf der Straße entgegen, schoben ihre Kinderwagen glückstrahlend vor sich her. Bei dem Gedanken, im kommenden Frühling genauso umherzulaufen, wurde ihr speiübel.
Meine Mutter sog an ihrer Zigarette, lief weiter, kämpfte mit den Tränen. Emotional gesehen war ihre Lage verheerend – rational betrachtet auch. Sie hatte nicht einmal eine eigene Wohnung. Und sie hatte keinen Mann. Genauer gesagt keinen Mann, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. Mit Männern tanzen, lachen, in ihren Armen liegen und aus ihren Portemonnaies eine Cola-Rum spendiert bekommen brachte sie in Hochstimmung, aber mit einem Mann zusammenzuleben, jeden Tag, mit seinem Geruch, seiner Zahnbürste neben der ihren und seinem dösigen Blick am Morgen, war völlig ausgeschlossen, und ihn am Ende sogar zu heiraten – niemals!
Um welchen Mann ging es eigentlich? Der Gedanke kam ihr erst jetzt. Wer war der Vater? Sie versuchte, sich an die Wochenenden vor zwei, drei Monaten zu erinnern. Da war allerhand passiert. Die Männergesichter, die in Frage kamen, zogen an ihr vorbei wie Fahndungsfotos, und sie, die einzige Zeugin, sollte den Täter identifizieren. Da waren: der charmante, steinreiche und elegante Robert; dann Ralph, der Indonesier; außerdem dieser Altstadtflirt, groß und dunkelhaarig … wie hieß er noch gleich?
Ein hupendes Auto riss sie aus ihren Gedanken. Aus dem trostlosen Gewirr an der Kreuzung leuchtete ihr ein Café entgegen. Ein Lichtblick in all der Trübsal. Sie eilte über die Straße und stieß die Tür auf. Drinnen war es voll und verqualmt. Meine Mutter schob sich an den überfüllten Tischen entlang, vorbei an Fönfrisuren und Schmalzlocken, bis zur Damentoilette. Dort starrte sie in den Spiegel. Bis auf die verlaufene Wimperntusche sah sie ganz passabel aus, mit ihren schön geschwungenen Lippen, den großen grünen Augen und dem blonden, hochtoupierten Haar. Sie putzte sich die Nase, wischte die Wimperntusche ab und zog Kajal- und Lippenstift nach. Dann ging sie zurück, setzte sich an einen kleinen Tisch, zündete sich eine Zigarette an und bestellte Kaffee. Aus der Jukebox wummerte ihr Lieblingslied, «Rock Around the Clock» von Bill Haley. «We’re gonna rock, rock, rock till broad daylight …», und ehe sie sich’s versah, wippte ihr Stöckelschuh auf und ab.
Genug Selbstmitleid! Irgendeine Lösung würde sich schon finden.
Blaue Flecken
Ihre eigene Mutter war gestorben, als sie gerade zwanzig war. Um ihrem cholerischen, verbohrten und häufig betrunkenen Vater endlich zu entkommen, hatte sich meine Mutter zwei Jahre zuvor auf ein Zeitungsinserat gemeldet und war als Untermieterin in die Villa der alten Frau Dönberg gezogen, ins noble Meerbusch-Büderich. Wenn sie überhaupt einmal zu Hause war, bewohnte sie das ehemalige Dienstmädchenzimmer im Keller, welchen Frau Dönberg «Suterä» nannte. Die alte Dame sagte auch «Pardon», «Kanapee» und solche seltsamen Sachen, stellte bei jeder Gelegenheit ihre großbürgerliche Herkunft und ihr lupenreines Französisch zur Schau.
Es war eine leicht muffig riechende, beängstigend große Villa, die ihre besten Jahre längst hinter sich hatte. Herr Dönberg hatte es mit seinem rheinischen Elektro-Imperium zu einem Vermögen gebracht. Jetzt war er tot, die Kinder fortgezogen und Frau Dönberg allein. Halb taub und fast blind, drückte sie, wenn sich Mutter nach einer durchtanzten Nacht früh am Morgen in die Villa stahl, ein trübes Auge zu und nahm selbst das Tuscheln der Nachbarinnen in Kauf, heilfroh, nicht immer allein zu sein in diesem riesigen Haus.
An jenem Abend, nachdem sie den Nachmittag im Café verbracht hatte, schloss sich meine Mutter im Badezimmer ein, ließ heißes Wasser in die Wanne einlaufen und goss noch siedend heißes Wasser aus dem Kochtopf hinzu. Dann kippte sie ordentlich Rosmarinöl hinein, setzte sich in die überheizte Brühe und wartete. Eine Bardame hatte ihr einmal zugeraunt, dass dies eine todsichere Methode sei, eine Schwangerschaft zu beenden. Doch außer roten Flecken auf Armen und Beinen passierte nichts.
Am nächsten Tag stieg meine Mutter auf einen Stuhl, den sie auf den Tisch gestellt hatte, und sprang hinunter. Unsanft kam sie auf. Sie zählte die blauen Flecken an Oberschenkeln und Hüften und wartete auf irgendein Zeichen ihres Körpers, aber es kam nichts. Am Folgetag sprang sie von der Treppe – vergeblich. Auf jede erdenkliche Art versuchte sie, das Kind in ihrem Bauch wieder loszuwerden. Doch nichts half.
Ich, ihr Baby, hatte mich festgesetzt.
Abtreibung stand in den sechziger Jahren strikt unter Strafe. Dennoch gab es ein paar wagemutige Ärzte und windige Kurpfuscher, die den Eingriff heimlich vornahmen. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Also holte sich meine Mutter bei einem geschäftstüchtigen Medizinstudenten, der seine illegale Praxis in einer Düsseldorfer Industriebrache betrieb, einen Termin.
An jenem Morgen – sie hatte sich bei der Arbeit mit der Erklärung entschuldigt, sie habe Fieber – wollte sie gerade ihren Mantel vom Haken nehmen und die Sache ein für alle Mal hinter sich bringen, als Frau Dönberg plötzlich hinter ihr stand, in der Tiefe des lichtlosen Flurs. Agathe Dönberg, groß und hager wie eine dürre Tante, sah in ihrem altrosafarbenen Brokat-Hauskleid aus wie eine Opernsängerin in der Künstlergarderobe, die ihre besten Tage längst hinter sich hatte.
Frau Dönbergs sonst so beherrschtes Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen. Irgendwie hatte sie Lunte gerochen und stellte ihre Untermieterin zur Rede, quetschte meine überrumpelte Mutter aus. Frau Dönberg, katholisch, gottesfürchtig und vierfache Mutter, hob den perlmuttfarben lackierten Zeigefinger und drohte meiner Mutter bei der heiligen Maria, sie bei der Polizei anzuzeigen, wenn sie ihren Plan nicht aufgab.
«Zwei Jahre Damenzuchthaus für Babymörderin» hatte kürzlich in der Rheinischen Post gestanden. Die Schlagzeile hatte sich meiner Mutter eingebrannt. Eine Weile starrten sich die beiden Frauen schweigend an. Dann hängte meine Mutter wortlos ihren Mantel zurück an die Garderobe, nicht ohne die kompromisslose Greisin (der ich nicht weniger als mein Leben verdanke!) mit einem eisigen Blick zu bedenken.
Die Würfel waren gefallen. Das Kind würde bleiben und wachsen und irgendwann sogar herauskommen. Aber bis dahin dauerte es noch eine Weile. Nach wie vor ging meine Mutter jedes Wochenende tanzen in den zahllosen Musikbars. Theke, Tanzfläche und Livemusik, fertig waren die angesagtesten Tanzschuppen von Düsseldorf. Selbst in der kleinsten Spelunke war Platz für ein paar Musiker, die Jazz oder Rock ’n’ Roll spielten, auf engstem Raum drängten sich Schlagzeuger, E-Gitarristen, Saxophonisten und Kontrabassisten zusammen.
Es waren die frühen sechziger Jahre, die Nachkriegszeit schien abgehakt, jetzt sollte endlich gefeiert werden. Elvis Presley war auf der Höhe seines Erfolges, und der Rock ’n’ Roll zog die Liebe der Jungen auf sich wie den Groll der Alten.
Wenn die ersten Gitarrenriffs erklangen, vergaß meine Mutter alle Sorgen. Sie tanzte in ihrem engen Bleistiftrock, auf ihren Stöckelschuhen mit den Pfennigabsätzen, wackelte mit Knien und Hintern und wirbelte über das Parkett. Von hinten war sie weiterhin so schmal, dass die Männer ihr nachschauten.
Einmal tippte ihr ein Typ auf die Schulter, sagte: «Na, du kleine Zuckerperle?», dann bemerkte er ihren Bauch, der sich unter dem Kleid wölbte. Sofort hob er erzürnt seinen Zeigefinger und scholt sie eine Rabenmutter, die gefälligst zu Hause bleiben solle, wie jede andere anständige Frau in diesem Zustand auch.
Je größer der Bauch meiner Mutter wurde, desto mehr streiften sie strafende Blicke. Ein Mann raunte ihr am Tresen zu, laute Musik fördere körperliche Missbildungen und Idiotie. Selbst ihre Freundinnen riefen ihr über die Tanzfläche zu: «Hömma, das wird ja taub und seekrank, dein Baby!»
Was wollten sie alle von ihr? Sollte sie daheim auf dem Sofa liegen, ein trauriges Walross im Umstandskleid, sollte sie Jäckchen und Mützchen stricken und Monogramme in Spucktücher sticken?
Als sie schließlich beim besten Willen nicht mehr in ihre engen Röcke und taillierten Kleider passte, zog sie nicht mehr mit den anderen los. Sie hatte sich zwar ein paar todschicke Umstandskleider zugelegt, aber in Bars konnte sie in diesem Aufzug unmöglich gehen.
Wenige Wochen vor der Geburt gab sie sogar ihren geliebten Job im Plattenladen auf. Sie zögerte die Kündigung so lang wie möglich hinaus, weil es kaum einen Ort gab, an dem sie sich wohler fühlte. Die «Plattenbörse Roberts» war ein kleiner, verwinkelter Laden in der Altstadt von Düsseldorf, vollgestopft mit dem feinsten Vinyl von Liverpool bis San Francisco. Es war der einzige Ort, wie sie später gern sagte, wo sie den ganzen Tag von Menschen umgeben war, die sie wirklich mochte: Elvis, Bill Haley und Co.
