Die tragfähige Eltern- Kind Beziehung
- Dr. Jutta Weber
- 23. Okt. 2022
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Okt. 2022
Als Eltern bewegen wir uns zwischen elterlicher Verantwortung und kindlicher Selbstbestimmung.
Unsere Kinder sollen so frei und unbeschwert wie möglich aufwachsen. Um Dinge zu erfassen, muss man sie anfassen dürfen. Kinder brauchen den Versuch, die eigene Erfahrung, um sich zu entwickeln.
Erst nach und nach jedoch können wir ihnen die Verantwortung für ihr Handeln in allen Bereichen zumuten.
Kinder handeln erst einmal nicht vorwiegend ethisch, empathisch, moralisch oder gruppenkonform. Kinder handeln emotional, intuitiv und spontan. Das ist toll, aber nicht immer angemessen. In den Bereichen z.B., in denen ein Kind die Grenzen anderer deutlich überschreitet und die Verantwortung für sein Handeln noch nicht übernehmen kann, sind wir als Eltern und engste Begleitung unserer Kinder gefordert, ihnen durch die entsprechende Situation hindurch zu helfen.
Ein Beispiel:
Ich stehe beruhigend einredend vor einem 3-jährigen, dem seit dem Vortag ein Ohr wehtut und der in der Nacht unruhig geschlafen und mehrfach aufgeschrien hat. Seine Mutter hat ihn auf dem Schoß. Mitten in meiner Ansprache: „Jonas, ich schaue jetzt mal vorsichtig in dein Ohr. Erst in das, das dir nicht weh tut,“ holt Jonas, mit seiner Hand aus und haut mir ins Gesicht, gleichzeitig tritt er mir in den Bauch.
Ok. Jonas' Ohr tut weh und er möchte nicht untersucht werden. Er hat Angst, dass die Inspektion schmerzhaft sein könnte.
Jonas hat den Impuls, mich abzuwehren und noch keine Impulskontrolle.
Dennoch finde ich die Reaktion seiner Mutter befremdlich- sie reagiert nämlich einfach gar nicht.
Worauf möchte ich hinaus:
Es ist angebracht Kindern in einer Situation, in der sie sich überschießend und grenzüberschreitend verhalten zu verdeutlichen, dass dies nicht richtig war.
In der konkreten Situation hätte ich mir gewünscht, dass die Mutter ruhig, aber selbstbewusst in die Situation eingeschritten wäre. „Jonas, treten und hauen geht nicht. Ohne Untersuchung weiß die Ärztin nicht, welche Medizin wir brauchen.“ oder „Ups- Frau Weber, tut mir leid, dass habe ich nicht kommen sehen. Was war los, Jonas, hast du dich erschreckt?“
Die Reaktion, die Eltern zeigen, sollte zur Situation passen, authentisch sein. In einer solchen Situation als Mutter oder Vater gar nicht zu reagieren, ist der Situation nicht angemessen. Keine Reaktion bedeutet für`s Kind so viel wie: Ich lasse dich gewähren, ich nehme dich nicht wahr, selbst, wenn du ein Verhalten zeigst, dass unangemessen ist oder dich und andere gefährden könnte.
Eine tragfähige Eltern- Kind Beziehung beinhaltet, dass Eltern schwierige Situationen unterschiedlicher Art mit dem Kind gemeinsam durchstehen. Man kann sich als Eltern also nicht heraushalten, wenn das Kind keine (Auf-)lösung für eine schwierige Situation parat hat.
Kinder brauchen, wie gesagt, große Freiräume. Sie müssen sich ausprobieren dürfen. Sie sollen das meiste mit ihren Freundinnen und Freunden selber regeln dürfen. Sie sollen und wollen selbst erfahren, wie Dinge funktionieren, wie man gewisse Handlungen durchführt. Sie wollen mitbestimmen, was und wieviel sie essen, suchen sich ihre Freundinnen und Freunde selbst aus, viele auch früh ihre Kleidung. Wenn sie Argumente haben, sollten sie uns überzeugen können von Dingen, die wir anders wollten, aber völlige Selbstbestimmung ist für Kinder überfordernd und nicht angemessen.
Je älter ein Kind ist und je mehr Empathie es entwickelt und damit auch Selbstfürsorge und Risikoeinschätzung, desto mehr Entscheidungen kann es auch alleine treffen, aber es gibt Entscheidungen, die wir unseren Kindern abnehmen, Verhalten, das wir zu unterbinden versuchen, anderes, welches wir fördern sollten.
Es gibt viele Dinge, für die wir bereit sein sollten, die Verantwortung zu übernehmen, weil wir wissen oder zumindest eine Idee davon haben, wie menschliches Miteinander läuft, weil wir einiges darüber wissen, was ein Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, in eine Gruppe integrierbar zu sein, Freund*innen zu finden und zu halten.
In vielem brauchen unsere Kinder unser Vorbild, in anderen Bereichen unsere klare Haltung.
Ein Kind würde keine Medizin einnehmen, sich nicht die Fingernägel schneiden, die Haare waschen oder die Zähne putzen, noch viel weniger einen Zahnarzt aufsuchen, ließe man es selbst bestimmen. Es würde nicht jeden Tag in den Kindergarten gehen- auf jeden Fall nicht für so viele Stunden, es würde eventuell nur Milchreis essen oder Pfannekuchen oder nur ein Glas Wasser pro Tag trinken. Es würde irgendwann einschlafen, eventuell in der Nacht ein paar Stündchen spielen oder eine Tüte Gummibärchen essen.
Zu all dem haben wir eine Position.
Wir behüten unsere Kinder durch unsere Vorgaben in den Bereichen, für die ihre Selbstständigkeit noch nicht ausreicht, um selbstbestimmt zu handeln.
Dabei geht es überhaupt nicht um Macht, nicht um`s Gehorchen- ein Wort, das Gott sei Dank mehr und mehr aus unserem Wortschatz verschwindet.
Es geht darum, dass unsere Kinder darauf vertrauen, dass es Hand und Fuß hat, wenn wir etwas einfordern oder sie um etwas bitten.
Was sollte man vermeiden, was beachten?
Formulieren Sie nichts als Frage, was nicht als Frage gemeint ist.
„Sophia möchtest du dir schon mal die Jacke anziehen?“ ist nicht angebracht, wenn sie schnell aus dem Haus müssen und es draußen schneit. „Zieh bitte schon mal deine Jacke an.“ ist deutlich überzeugender.
Genauso wenig ist die Frage angebracht: Darf ich dir jetzt den Hustensaft geben?
Oder: Kannst du bitte die Haare deines Bruders loslassen?
Klar, wir wollen zu unseren Kindern höflich sein, dennoch gibt es Situationen, die von uns klare Aussagen erfordern, sonst klingt es so, als hätten wir selbst keinen Plan- und das ist für ein Kind schlimm. Wer, wenn nicht die Eltern findet sich im Leben zurecht, kennt den Weg, kann mich schützen?
Sagen sie nicht diffus zu allem nein.
Das führt zur sogenannten Nein- Taubheit. Im Wirr- Warr der Neins schaltet das Kind bei diesem Wort völlig ab und kann ein wichtiges Nein von einem unwichtigen nicht unterscheiden.
Versuchen Sie, die Ruhe zu bewahren.
Wenn Sie in einer angespannten, chaotischen oder brenzligen Situation laut werden oder hektisch, eskaliert die Situation noch mehr. Das Kind braucht das Gefühl, dass sie recht gelassen wissen, was zu tun ist- und dabei an seiner Seite bleiben.
Seien Sie zuverlässig.
Wenn Sie je nach Stimmung unterschiedliche Maßstäbe an den Umgang mit dem Kind anlegen, kann das Kind nicht wissen, woran es bei Ihnen ist.
Wir sind keine schlechten Eltern, wenn wir unsere Kinder in dem ein oder anderen begrenzen. Auch dann, wenn wir nur wenig gemeinsame Zeit am Tag mit ihnen verbringen und deshalb ein schlechtes Gewissen haben, kann es notwendig sein, sie in ihrem Tun zu kritisieren oder sie von bestimmten Handlungen abzuhalten.
Wir zeigen unseren Kindern damit, dass wir sie ernst nehmen und dass uns an ihnen und ihrem Zurecht- Kommen in der Welt gelegen ist.
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