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Warum es in Familien wichtig ist, über Rassismus zu sprechen

  • Autorenbild: Dr. Jutta Weber
    Dr. Jutta Weber
  • 12. Okt. 2023
  • 8 Min. Lesezeit


Die Rolle, die unsere Eltern für unseren Stand im Leben, für die Entwicklung unserer Persönlichkeit spielen, ist immens groß.

Wir Menschenkinder sind als Säuglinge in besonderer Weise abhängig von unseren Müttern und Vätern bzw. unseren Hauptbezugspersonen, entwickeln uns aber mit enormer Energie und Vielfältigkeit aus uns selbst heraus. Wir brauchen niemanden, der uns zeigt, wie man krabbelt, sich hinsetzt, läuft, wie man Türme baut, Türen öffnet, Perlen auffädelt, wie man Laufrad fährt oder sich ein Glas einschenkt. Wir versuchen und üben all das aus uns heraus, solange, bis wir es können. Man muss uns nur lassen, am besten uns gerne zuschauen, uns bei unseren Versuchen ermutigen, uns allenfalls ein Vorbild sein.

Wir kommen mit grenzenlos vielen Optionen zur Welt. Welche von ihnen wir wie ausleben und entwickeln können, hängt zu großen Teilen von den Gegebenheiten ab, in die wir hineingeboren wurden- von gesellschaftlichen Strukturen, von Tradierungen, von ökonomischen Faktoren, aber am Anfang in allererster Linie von unseren Eltern.

Auf welche Weise werden wir von ihnen in der Welt empfangen und begleitet? Welchen Umgang haben sie mit uns? Welche Werte werden uns von ihnen vermittelt?

Ein Schwarzes Kind mit weißem Elternteil oder mit weißen Eltern zu sein, war in den sechziger Jahren, als ich zur Welt kam, etwas komplett anderes als heutzutage.

Es gab eigentlich keine Schwarzen Mütter, die mit einem weißen Mann ein Kind bekamen, also waren die wenigen Schwarz/weißen Kinder, die es gab aus einer in den allermeisten Fällen nicht- ehelichen Verbindung zwischen einer weißen Frau und einem Schwarzen Mann entstanden.

Um die gesellschaftliche Atmosphäre, die in den 50er und 60er Jahren herrschte darzustellen, ein kleiner Exkurs: Nicht- ehelich schwanger zu sein, war in den Sechzigern an sich schon eine ganz besondere Herausforderung. Man galt als Frau als „gefallenes Mädchen“.

Die einzige Möglichkeit, diese „Misere“ ins gesellschaftlich Akzeptable zu wenden, war eine Ehe. War der Vater ein Schwarzer, war dies schon wegen seiner Hautfarbe undenkbar. Die ungewollte Schwangerschaft trieb die Frauen oft in tiefe Verzweiflung. Nicht selten überließen sie sich den Händen sogenannter Engelmacher*innen, die mit gefährlichen Methoden die Schwangerschaft unterbrachen.

Fehlte dazu der Mut (Abtreibung war strengstens verboten) oder hielten die Frauen emotionale oder religiöse Gründe von diesem Weg ab, hatten wir Schwarzen Babys im Bauch unserer weißen Mütter diese erste, sehr wesentliche Hürde überlebt. Unsere Mütter- damit auch uns- erwartete jedoch auch dann ein unbestimmtes Schicksal: Manche der unverheiratet schwangeren Frauen wurden von ihren Familien in Klöster oder in Mütterheime geschickt, manche begaben sich „freiwillig“ dorthin. Sie blieben und arbeiteten dort. Viele gaben ihr Kind nach der Geburt zur Adoption frei, um danach wieder in ihr normales Leben zurückzukehren, was jedoch meist nicht gelang. Viele hörten nie auf, ihre Kinder zu vermissen.

Entschieden sich die Mütter, ihre Schwarzen Babys bei sich zu behalten, waren wir Schwarzen Kinder immer noch längst nicht sicher an ihrer Seite.

Nach 1945 waren 5.000 der insgesamt 70.000 nicht- ehelich geborenen Kinder, die aus Verbindungen mit ausländischen Soldaten hervorgingen, Schwarz.

Diese sogenannten „Brown Babies“ stellten ein Politikum dar und wurden als „rassisches Problem“ im Bundestag diskutiert. Sie galten als nicht integrierbar und sollten daher nach Amerika verschifft und dort von Schwarzen Familien adoptiert werden.

1951 wurden die ersten beiden Schwarzen Kinder aus Mannheim zu Schwarzen Adoptiveltern nach Amerika gegeben. In der Zeitung erschien damals die Meldung:

„Zwei kleine N****lein, die fahren über`n Teich“.

Rund 2500 Kinder wurden auf die Weise bis zum Anfang der 60er Jahre verschickt. Ihre Mütter hatte man ein Papier unterzeichnen lassen, das ihre Kinder zur displaced person, zur staatenlosen Person, werden ließ. (Christiane Westermann, der lange Abschied von der weißen Dominanz, dtv 2019)

Ich wusste tatsächlich bis vor einem Jahr nichts von diesen barbarischen Praktiken, aber dennoch habe ich früh gewusst, haben wir Schwarzen Kinder weißer Mütter in den 60er Jahren früh gespürt, dass wir nicht selbstverständlich an der Seite unserer Mütter waren.

Was ich also mit vielen Schwarzen Kindern weißer Mütter meiner Generation gemein habe, das uns von den Schwarzen Kindern späterer Generationen unterscheidet: wir waren nahezu alle ungewollt, blieben auch nach unserer Geburt für unser Umfeld, abgesehen von unseren Müttern, unerwünscht und wuchsen sehr oft ohne den leiblichen Vater an unserer Seite auf.

Die Bindung an unsere Mütter war aus verschiedenen Gründen deutlich enger und existentieller, als sie bei Babys schon normalerweise ist. Wir waren ihnen grenzenlos dankbar: Sie hatten uns nicht abgetrieben, nicht den Nonnen im Heim überlassen und nicht zur Verschiffung nach Amerika freigegeben. Damit hatten sie ganz bewusst reale, existentielle Bedrohungen von uns abgewendet. Auch wenn natürlich kein Baby etwas von all diesen Umständen begreift, beschreibt dies dennoch die Atmosphäre, in die dieses Baby hineingeboren wurde. Es ist das genaue Gegenteil eines langersehnten, viel umliebten Wunschkindes.

Meine Mutter und ich waren in meinen ersten Lebensjahren eine Insel: Ich war ihr Ein und Alles- und sie meins.

Was von draußen zu stören drohte, wurde abgewehrt. Mein Vater sollte keine Rolle spielen, dass ich braun war, war schön und basta. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Meine Mutter fand Schwarze Männer schön und attraktiv, also schloss sie, dass jede*r weiße Deutsche dazu in der Lage sein sollte, Schwarze Menschen schön und attraktiv zu finden.

Von klein auf wollte ich meine Mutter nie verärgern- wenn wir uns gut verstanden, sie an meiner Seite war, war ich sicher.

Weiße Mütter Schwarzer Kinder haben keinen eigenen Erfahrungsschatz darüber, was Schwarzsein bedeutet. Wenn kein Schwarzes Elternteil mit dem Kind lebt, wird es vollkommen anders aufwachsen, als wenn ein Schwarzer Elternteil mit seiner transgenerationellen Prägung und seinen eigenen Erfahrungen bzgl. Rassismus an der Erziehung beteiligt ist.

In dem Buch „Zwischen mir und der Welt“, berichtet Ta- Nehisi Coates eindrucksvoll, dass Schwarze Eltern(teile) ihre Kinder auf die rassistischen Anfeindungen, die auf sie zukommen könnten, vorbereiten. Sie stellen sich zwischen ihre Kinder und die weiße Welt. Schwarze Eltern haben die Erfahrungen der „gestohlenen Körper“(Coates), der Körper also, die wegen ihrer Farbe abgewertet werden, impliziert. Sie sind in Schwarzen Familien Teil ihrer Familiengeschichte. Coates richtet sich mit seinem Buch an seinen Sohn.

James Baldwin schreibt in seinem Buch „Nach der Flut das Feuer“ an seinen Neffen. Eindrücklich erklärt er die Angst Schwarzer Eltern um ihr Kind, wenn sie spüren, dass es manche Grenzen zu akzeptieren nicht bereit ist oder wenn es gar selbstverständlich davon ausgeht, dass es in der Welt als Schwarzes Kind alles tun kann, was ein weißes Kind tun kann (Baldwin).

Weiße Eltern Schwarzer Kinder haben diese Angst eher vage, sie sitzt ihnen nicht so tief, sie scheint für sie ein lösbares Problem zu sein.

Als ich aufwuchs, gab es in meinem Umfeld eine sehr geringe Anzahl Schwarzer Menschen und ein sehr geringes Bewusstsein für Rassismus. Das N- Wort war gang und gäbe, genauso wie Black Facing, auch ich sang lauthals rassistische Kinderlieder (N.-Aufstand ist in Kuba, zehn kleine N.). All dem wurde keine Bedeutung beigemessen- auch nicht von meiner Mutter.

Was für sie zählte, waren Anfeindungen gegen mich persönlich in ihrer Anwesenheit. Da wurde sie zur Löwin und gab dem Gegenüber zu verstehen, er sei unverschämt und solle still sein. Bevor ich die Situation oft überhaupt verstanden hatte oder ein Gefühl in mir aufkommen konnte, war sie schon für mich in die Bresche gesprungen. Mir gab sie zu verstehen, dass es immer und überall ein paar Idioten gäbe. Das stimmt, aber es hat mir nicht geholfen, meine Gefühle bei rassistischen Ausgrenzungen anderer in Worte zu fassen.

Vielleicht auch dadurch, dass ich kein Vokabular für das hatte, was mir teilweise draußen widerfuhr, machte ich das mit mir selber aus- und maß ihm so wenig wie möglich Bedeutung bei.

Wenn sich jemand wunderte, dass ich so gut deutsch sprach, mir sagte, mein Name würde ja gar nicht zu mir passen, mich jemand gebrochen Deutsch sprechend und dabei gestikulierend ansprach, irgendwer Affenlaute machte, wenn er mich sah, mich jemand penetrant fragte, woher ich komme und woher meine Eltern, mir die Frisörin sagte, mit meiner Krause könne man wenig machen, wenn ich „Fanta“ oder „Kunta Kinte“ aus der Sendung „Roots“ genannt wurde, war das für mich allein meine Sache. Nie hätte ich mit Freunden oder Familie von mir aus über meine Hautfarbe oder meine Erfahrungen diesbezüglich gesprochen, da dies nicht bei ihnen und auch sonst nirgendwo überhaupt Thema war. Ich scheute mich davor, mich zu erklären- und konnte es auch einfach nicht.


Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen- zumindest im Ansatz- das Bewusstsein für gesellschaftlichen Rassismus.

Viele der weißen Mütter oder Väter Schwarzer Kinder in meiner Praxis sind mehr oder weniger aufgeklärt. Sie leben in Schwarz-weißen Beziehungen und haben ihre Kinder geplant, wie alle anderen Paare. Sie bekommen Schwarz-weiße Wunschkinder mit komplett anderen Startbedingungen. Manche Eltern sind belesen über Rassismus, lesen Schwarze Literatur, verfolgen das Alltagsgeschehen. Rassismus ist in aller Munde, nicht erst, aber deutlich intensiver seit der Black- Lives- Matter- Bewegung.

Auch weiße Menschen ohne Kinder oder mit weißen Kindern setzen sich zu Teilen antirassistisch ein und besprechen das Thema Rassismus in ihren Familien.

Und dennoch: Der offene Umgang mit dem Thema Rassismus hat es für die weißen Eltern(teile) und vor allem für deren Schwarze Kinder nicht deutlich leichter gemacht. Es wird über Rassismus gesprochen, es gibt antirassistische Mitstreiter*innen, aber bis hin zur Selbstverständlichkeit von Schwarzsein in Deutschland ist es noch ein langer Weg.

Wie meine weiße Mutter vermitteln auch heute noch weiße wie Schwarze Mütter und Väter Schwarzen Kindern, dass sie sich bilden sollen so gut es geht, mehr leisten müssen, um in der Gesellschaft anerkannt zu werden- daran hat sich seit den 60er Jahren wenig geändert.

„Die Weißen in diesem Land werden noch genug damit zu tun haben, sich selbst und einander zu akzeptieren und lieben zu lernen- und, wenn sie das geschafft haben, was nicht morgen geschieht, was eventuell überhaupt nicht geschieht-, gibt es kein „Negro problem“ mehr, das wird dann nämlich nicht mehr gebraucht“, schreibt James Baldwin.

Viele weiße Mütter Schwarzer Kinder haben mich angeschrieben und wollten wissen, ob es tatsächlich wichtig sei, mit ihren Kindern über Rassismus zu sprechen. Manche gaben an, dass sie den Eindruck hätten, ihr Kind mache keine Rassismuserfahrungen.

Ja, es ist wichtig, mit dem Kind bereits früh über Rassismus zu sprechen, denn es wird in jedem Fall rassistische Erfahrungen machen. Das Kind braucht das Bewusstsein, dass das zuhause ein Raum ist, in dem es über seine Erfahrungen sprechen kann. Es muss seine Erlebnisse in Worte fassen können. Diese Worte sollte es zuhause lernen.

Weiße Mütter haben oft Angst davor, dass es mit der anderen Hautfarbe bzw. mit deren Thematisierung ein Gebiet gibt, dass sie von ihren Kindern trennt, dass sie nicht mit ihnen teilen können. Das ist absolut richtig. Schwarze Kinder werden Erfahrungen machen, die ihren weißen Müttern erspart blieben, aber es ist dabei nicht hilfreich, sie unter den Tisch zu kehren oder zu relativieren („so schlimm war`s doch sicher nicht oder das hat er oder sie sicher nicht so gemeint“). Die rassistischen Ausgrenzungen und die Gefühle, die diese im Kind auslösen, sind dadurch nicht weniger vorhanden. Ganz im Gegenteil: das Kind vertraut nicht länger seinem Gefühl oder nicht länger seinen Eltern und bleibt mit seinen Erfahrungen zukünftig lieber alleine.

Mütter und Väter verbindet so vieles mit ihren Kindern, dass es kein Problem sein sollte zu akzeptieren, dass sich die Erfahrungen eines Schwarzen Kindes von dem seiner Weißen Mutter unterscheiden. Niemand begleitet uns so nah und intensiv wie die eigenen Eltern. Niemand ist so sehr bereit, uns zu unterstützen und bedingungslos anzunehmen und uns so wohlwollend zu begegnen. Gerade deshalb gehört die Vorbereitung auf mögliche rassistische Erfahrungen und das offene Ohr, falls solche eingetreten sind genau dorthin: in die eigene Familie und zu den eigenen Eltern. Dort sollten die meist schmerzhaften Rassismuserfahrungen ernst genommen und Möglichkeiten des Umgangs damit besprochen werden.

Eltern weißer Kinder können diese für das Thema Rassismus sensibilisieren und ihnen erklären, wie sie gegebenenfalls Schwarze Freundinnen oder Mitschüler unterstützen können.

Familie kann ein vorpolitischer Raum sein, in dem gerade solche Themen wie Rassismus und Antirassismus dringend Thema sein sollten- natürlich nicht nur in Familien mit Schwarzen Kindern.

Oft entsteht Ablehnung und Hass durch feilendes Gespräch, durch mangelndes Wissen, durch zu wenig Austausch. Das müssen wir ändern, damit sich etwas ändert und wir irgendwann selbstverständlicher, friedvoller und mit mehr Akzeptanz miteinander leben können.

 
 
 

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